Die Digitalisierung der Welt aus Phänomenologischer Perspektive

Phänomenologie, KI, und der Mensch als Marionette von Algorithmen

Durt, Christoph. forthcoming 2024. “Die Digitalisierung Der Lebenswelt Und Des Menschen: Phänomenologie, KI, und der Mensch als Marionette einer Maschine.” In Handbuch Philosophie Der Digitalität, edited by Noller Jörg and Karoline Reinhardt.

Abstract 

Die Phänomenologie beschäftigt sich seit ihrer Gründung durch den Mathematiker und Philosophen Edmund Husserl mit der Möglichkeit, menschliches Erleben zu berechnen. Mit seinen Begriffen der Lebenswelt und Mathematisierung beschreibt er die überraschend tiefgreifende Entwicklung der Digitalisierung. Mit dem Fortschritt der Digitalisierung stellen sich zudem neue Fragen wie die der Beeinflussung von menschlichen Orientierungs- und Denkprozessen durch KI und Augmented und Virtual Reality. Die Phänomenologie ist besonders geeignet, zu diesen Fragen grundlegende Einsichten beizusteuern.

Keywords: Daten, Digitalisierung, Erleben, Information, KI, Lebenswelt, Maschine, Mathematisierung, Phänomenologie, Technologie, Virtual Reality

Was ist die Digitalisierung der Lebenswelt und des Menschen? Wird der Mensch immer mehr zum Teil einer Maschine, vielleicht sogar zu einer Marionette von Algorithmen? Gerade die frühe Phänomenologie bietet zu diesen Fragen umfassende, wenn auch oft übersehene Untersuchungen, die insbesondere die gegenwärtige und zukünftige Entwicklung von Big Data, KI und Virtual Reality erhellen können. Die phänomenologische Forschung befasst sich neben zahlreichen anderen relevanten Themen insbesondere mit der Berechenbarkeit menschlichen Erlebens und bietet mit Studien wie denen zur „Mathematisierung der Natur“ (Husserl 1962) einen neuen Blick auf die Digitalisierung. 

Es ist eine weit verbreitete Ansicht, dass die Digitalisierung der Lebenswelt mit den elektronischen Rechnern des 20. Jahrhunderts beginnt. Frühere mathematische, technische und wissenschaftliche Entwicklungen, einschließlich von Rechenmaschinen wie Pascals Rechner (1642), Leibniz’ Rechenmaschine (1672) und Babbages „Analytical Engine” (1822), werden auf eine „Vorgeschichte“ vor der eigentlichen Digitalisierung reduziert. Die Digitalisierung umfasst in dieser Sichtweise die Nutzung digitaler Artefakte wie Computer, Mobiltelefone oder Roboter und die Folgen ihrer Nutzung. 

Die Reduktion der Digitalisierung auf die Nutzung „digitaler“ Artefakte und deren Folgen vereinfacht das Thema zunächst stark, birgt aber die Gefahr, den größeren Zusammenhang „vor lauter Dingen“ zu übersehen. Aus phänomenologischer Sicht ist die Ding-Auffassung der Digitalisierung, wie auch die Verdinglichung von Technologie überhaupt, eine unzulässige Ausweitung der „natürlichen Einstellung,“ die Phänomene als Korrelate real gegebener Dinge auffasst. Die Phänomenologie beschäftigt sich demgegenüber nicht mit der Existenz oder Nichtexistenz von Dingen; die Existenzfrage wird in der „phänomenologischen Reduktion“ „eingeklammert“ (Husserl 1976). Stattdessen bemüht sich die Phänomenologie um eine Untersuchung der Dinge in ihren Erlebensweisen. Die Phänomenologie lässt sich insofern auch auf digitale Artefakte im Kontext ihrer Erlebnisweisen anwenden und sie kann untersuchen, wie ihr Gebrauch die Lebenswelt verändert. 

Darüber hinaus versteht schon der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, unter Technologie viel mehr als nur Werkzeuge und technologische Gegenstände. Er fasst Technik, wie schon im griechischen Begriff technē angelegt, vor allem als eine Praxis auf, die in der neuen Naturwissenschaft zur Symbolmanipulation anhand von logisch-mathematischen „Spielregeln“ perfektioniert wird (Husserl 1962, S. 46). Husserl spricht hier zwar nicht von Computern, aber von Berechnung und Berechenbarkeit. Ebenso verwendet er zwar nicht den Begriff der Information, doch geht es ihm zentral um mathematische Repräsentationen der Welt, die heutzutage unter dem Begriff der Information gefasst werden. Husserl spricht auch von Daten und insbesondere dem Versuch, Erlebnisse als sinnliche Daten zu beschreiben. Es geht ihm also um die Klärung von Zusammenhängen, die für das Verständnis digitaler Technologie grundlegend sind.

Den Lebensweltbegriff hat maßgeblich Husserl in die philosophische Diskussion eingeführt. Er versteht ihn als Gegenbegriff zur „mathematisierten“ Natur der modernen Naturwissenschaften, die der Natur ein „Kleid der Symbole“ (52) überziehet. Die Lebenswelt ist demgegenüber die Welt, in der wir leben, so wie wir sie erleben. Das phänomenologische Verständnis der Lebenswelt und ihrer Muster und Strukturen menschlichen Erlebens steht damit im Gegensatz zum modernen Weltbild, das die Welt als vollständig mathematisch-physikalisch bestimmbar auffasst und das Erleben als nur dem Subjekt zugehörig von der wissenschaftlichen Forschung ausschließt. Weil unser eigenes Denken von dieser Auffassung geprägt ist, versucht Husserl, die verschiedenen Schichten von „Sedimentierungen“ im neuzeitlichen Denken freizulegen, die sich im Laufe der Jahrhunderte über die Lebenswelt gelegt haben und im wissenschaftlichen Weltbild seiner (und unserer) Zeit unhinterfragt vorausgesetzt werden. Diesen Prozess bezeichnet er als „Mathematisierung der Natur,“ die aber auch als Digitalisierung der Welt verstanden werden kann: als Modellierung der Welt mit Hilfe diskreter Einheiten und deren Berechnung, die nur die symbolischen Repräsentationen unabhängig von ihrer Bedeutung verwendet.

Auch für Heidegger beruht die moderne Technik „nicht darauf und nicht darin, daß Elektromotoren und Turbinen und ähnliche Maschinen in Betrieb gesetzt sind, sondern dergleichen kann nur erstellt werden, insofern das Wesen der modernen Technik schon in die Herrschaft gelangt ist“ (Heidegger 2002). Wesentlich ist, dass die moderne Technik eine Art des „Entbergens“ ist. Die ältere Technik nutzt die Kräfte der Natur, beispielsweise treibt die Kraft des Windes die Windmühle an, aber die Entwicklung der älteren Technik bedarf keiner modernen Wissenschaft. Anders ist das bei der modernen Technik, die kaum ohne die modernen Naturwissenschaften und ihre Erklärung der Naturkräfte möglich wäre. Wasser- und Windturbinen nutzen kinetische Energie zur Erzeugung von elektrischer Energie, die über Leitungen transportiert und eventuell in Batterien gespeichert wird, um auf Knopfdruck einen Motor anzutreiben. Erst die Berechenbarkeit der Welt ermöglicht neuzeitliche Wissenschaft und Technik. Letztlich wird die Welt als ein „System von Information“ aufgefasst und behandelt. So “kann die Physik bei allem Rückzug aus dem bis vor kurzem allein maßgebenden, nur den Gegenständen zugewandten Vorstellen auf eines niemals verzichten: daß sich die Natur in irgendeiner rechnerisch feststellbaren Weise meldet und als ein System von Informationen bestellbar bleibt.” (Heidegger 2000, S. 24)

Neben der Natur wird auch der Mensch im naturwissenschaftlichen Weltbild als Informationssystem behandelt, das in gleicher Weise „bestellbar,“ berechenbar, kontrollierbar und steuerbar ist. Letztendlich sind Menschen, Wissenschaft, Technologie, Ökonomie und Staat Teile eines übergreifenden Informationssystems, das Günther Anders mit einer Maschine vergleicht. Nach den industriellen Rollen „des Eigentümers, des Erfinders, des Arbeiters, des Verkäufers und des Konsumenten“ (Anders 1995, S. 25) wird der Mensch nach Anders selbst zu einem Rohstoff, zum „homo materia“ (Anders 1995, S. 21). Der Mensch zählt nur noch als Teil der von ihm selbst geschaffenen „Maschine,“ er wird zum Maschinenteil: „Ob die Apparate ihre Beute als Rohstoff, Maschinenteile im engeren Sinne oder als Konsumenten verwenden, spielt keine Rolle; denn auch Rohstoff und Konsument gehören in den maschinellen Vorgang. Im strengen Sinne sind auch sie ‚Maschinenteile‘“ (Anders 1995, S. 112). Weil die „Maschine“ letztendlich ein Informationssystem darstellt, ist es aus dieser Sicht nur konsequent, dass Menschen im 21. Jahrhundert immer mehr zum Rohstofflieferanten von Daten werden.

Neben Husserl, Heidegger und Anders haben auch andere klassische Phänomenologen wie Hanna Arendt (Arendt 1998)und Maurice Merleau-Ponty (Merleau-Ponty 2012) scharfsinnige Einsichten für ein besseres Verständnis der Digitalisierung der Lebenswelt und des Menschen vorgelegt. Bereits aus dem Gesagten sollte aber deutlich geworden sein, dass für die klassische Phänomenologie die Digitalisierung mathematische, philosophische, wissenschaftliche, ökonomische und soziale Entwicklungen umfasst, die vielfach schon Jahrhunderte vor der Entwicklung elektronischer Computer und anderer digitaler Geräte stattgefunden haben. Aus einer phänomenologischen Perspektive ist Digitalisierung nicht nur ein Ergebnis der Verwendung von Computern, sondern sie ermöglicht überhaupt erst die Konstruktion von Computern und schafft die Bedingungen für die effektive Nutzung digitaler Technologie. Digitale Artefakte können somit als Teil eines umfassenderen Digitalisierungsprozesses verstanden werden, dem sie einerseits ihre Existenz verdanken und den sie andererseits beschleunigen.

Ein umfassendes Verständnis der Digitalisierung und ihres Bezugs zum Menschen und seiner Lebenswelt ist insbesondere für die Analyse neuerer Entwicklungen digitaler Technologien wichtig. Big Data, KI und prädiktive Technologie benutzen die Welt und den Menschen nicht nur als Datenressource und ermöglichen nicht nur die Berechnung, sondern zunehmend auch die automatisierte Steuerung der Lebenswelt und der Menschen (Durt 2024). Mehr noch: Zumindest Teile der menschlichen Erlebniswelt werden in Augmented und Virtual Reality digital erzeugt (Durt 2020). Sogar menschliche Orientierungs- und Denkprozesse können digital berechnet und beeinflusst werden (Durt 2023). Der Mensch ist damit nicht mehr nur Teil einer Maschine, sondern wird zunehmend auch zur Marionette von Algorithmen. Da sich die Phänomenologie grundlegend mit dem Verhältnis von Berechnung und Erleben befasst, ist sie besonders geeignet, KI und andere neue Entwicklungen der Digitalisierung der Welt und des Menschen besser zu verstehen.

Literatur

Anders, Günther. 1995. Die Antiquiertheit des Menschen 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München: Beck.

Arendt, Hannah. 1998. The human condition. 2nd ed. Chicago: University of Chicago Press.

Durt, Christoph. 2020. The Computation of Bodily, Embodied, and Virtual Reality: Winner of the Essay Prize ‘What can corporality as a constitutive condition of experience (still) mean in the digital age?’. Phänomenologische Forschungen25–39.

Durt, Christoph. 2023. The Digital Transformation of Human Orientation. An Inquiry into the Dawn of a New Era. Winner of the $10,000 essay prize by the Hedges Foundation of Philosophical Orientation (HFPO). In How Does the Digitization of Our World Change Our Orientation?, 99–141. Nashville: Orientation Press.

Durt, Christoph. 2024. Die Digitalisierung der Welt aus phänomenologischer Perspektive Hrsg. Noller Jörg und Karoline Reinhardt. Handbuch Philosophie der Digitalität.

Heidegger, Martin. 2000. Die Frage nach der Technik. In 1. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976: Vorträge und Aufsätze, Bd. 7, Gesamtausgabe, 5–36. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.

Heidegger, Martin. 2002. Was heisst Denken? Hrsg. Paola-Ludovica Coriando. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.

Husserl, Edmund. 1962. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie: eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hrsg. Walter Biemel. Dordrecht: Kluwer.

Husserl, Edmund. 1976. Ideen zu Einer Reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philosophie. Hrsg. Karl Schuhmann. Dordrecht: Springer Netherlands.

Merleau-Ponty, Maurice. 2012. Phenomenology of perception. Abingdon, Oxon ; New York: Routledge.